Hoffnung
Es war ganz still, so still, dass man hörte, wie die Kerzen am Kranz zu reden begannen.
Die erste Kerze seufzte und sagte: „Ich heiße Frieden, sie wollen mich nicht.“ Ihr Licht wurde immer kleiner und verlosch schließlich.
Die zweite Kerze flackerte und sagte: „Ich heiße Glauben. Aber ich bin überflüssig. Die Menschen wollen von Gott nichts wissen. Es hat keinen Sinn mehr, dass ich brenne.“ Ein Luftzug wehte durch den Raum und die zweite Kerze war aus.
Leise und traurig meldete sich nun die dritte Kerze zu Wort: „Ich heiße Liebe. Ich habe keine Kraft mehr zu brennen. Die Menschen stellen mich an die Seite. Sie sehen nur sich selbst und nicht die anderen, die sie lieb haben sollten.“ Und mit einem letzten Aufflackern war auch dieses Licht ausgelöscht.
Da kam ein Kind ins Zimmer. Es schaute die Kerzen an und sagte: „Aber, aber, ihr sollt doch brennen und nicht aus sein!“ und fast weinte es.
Da meldete sich auch die vierte Kerze zu Wort: „Hab keine Angst. Ich heiße Hoffnung!“
Das Kind nahm Licht von dieser Kerze und zündete die anderen Lichter wieder an.
Eine Geschichte über Dankbarkeit
Ein alter Mann beschloss nach dem Tod seiner Frau, ins Altersheim zu gehen. Die Wohnung schien ihm zu groß, und er wollte für seine letzten Tage auch noch ein bisschen Gesellschaft haben, denn er war geistig noch in guter Verfassung.
Im Heim musste er lange in der Halle warten, ehe ein junger Mann zu ihm kam und mitteilte, dass sein Zimmer nun fertig sei. Er bedankte sich und lächelte seinem Begleiter zu, während er, auf seinen Stock gestützt, langsam neben ihm herging.
Bevor sie den Aufzug betraten erhaschte der alte Mann einen Blick in eines der Zimmer und sagte. „Mir gefällt es sehr gut.“ Sein junger Begleiter war überrascht und meinte, er habe doch sein Zimmer noch gar nicht gesehen.
Bedächtig antwortete der alte Mann. „Wissen Sie, junger Mann, ob ich den Raum mag oder nicht, hängt nicht von der Lage oder der Einrichtung, sondern von meiner Einstellung ab, von der Art, wie ich ihn sehen will. Und ich habe mich entschieden, glücklich zu sein. Diese Entscheidung treffe ich jeden Morgen, wenn ich aufwache, denn ich kann wählen. Ich kann im Bett bleiben und damit hadern, dass mein Körper dies und jenes nicht mehr so reibungslos schafft – oder ich kann aufstehen und dankbar sein für alles, was ich noch kann. Jeder Tag ist ein Geschenk, und solange ich meine Augen öffnen kann, will ich sie auf den neuen Tag richten, und solange ich meinen Mund öffnen kann, will ich danken für all die glücklichen Stunden, die ich erleben durfte und noch erleben darf.
Sie sind noch jung, doch nehmen Sie sich den Rat eines alten Mannes zu Herzen. Deponieren Sie alles Glück, alle Freude, alle schönen Erlebnisse als Erinnerungen auf einem Dankbarkeits-Konto, um im Alter über einen Schatz zu verfügen, von dem Sie zehren können, wann immer Sie dessen bedürfen. Es liegt an Ihnen, wie hoch die Einlagen auf dem Konto sind. Ich gebe Ihnen noch zwei einfache Tipps, mit denen Sie ihr Konto rasch wachsen lassen können: Hegen Sie in Ihrem Herzen nur Liebe, und in ihren Gedanken nur Freude. In dem Bewusstsein, so ein Konto zu besitzen, verliert die Zukunft ihre Ungewissheit und der Tod seine Angst.“
Der junge Mann hatte staunend zugehört und bedankte sich nun mit einem strahlenden Leuchten in seinen Augen. Freudig drückte er den Arm des Alten und meinte: „Vielen Dank, ich habe soeben mein Dankbarkeits-Konto eröffnet, und dieses Gespräch ist die erste Einlage.“
Mit diesen Worten öffnete er die Tür, um dem neuen Bewohner sein Zimmer zu zeigen. Mit einem Schmunzeln sagte dieser: „Mir gefällt es sehr gut.“
Marianne Becker
Pfingsten 2020
Der Vater liest seinen Kindern vor: „Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ Die Tochter und der Sohn setzen automatisch ihre Nasen-Mund-Masken auf. "Nein", sagt der Vater, "ich rede nicht von Corona. Ich spreche vom Heiligen Geist."
Pest und Bürgermeister
Die Pest, die bereits zwei Städte vollkommen ausgerottet hat, geht Richtung einer Stadt, deren Bürgermeister ihr entgegen geht, um sie zu bitten seine Stadt zu verschonen. Pest und Bürgermeister vereinbaren, dass sie zwar durch die Stadt gehen wird, sich jedoch nur 1000 Bewohner mitnehmen wird. Als sie wieder abzieht sind aber 6000 Menschen gestorben. Entrüstet stellt der Bürgermeister die Pest zur Rede: „Du hattest versprochen nur 1000 mitzunehmen!“ „Ich habe mein Wort gehalten“, sagt die Pest, „die anderen 5000 sind an ihrer Angst gestorben.“
Das verschenkte Licht
Es war eine Frau, die hatte gehört, dass an einem fremden Ort eine heilige Flamme brennt. Sie machte sich auf, um etwas von diesem Licht zu sich nach Hause zu holen. Sie dachte: Wenn du dieses Licht hast, dann hast du Glück und Leben und alle, die du liebst, werden es auch haben. Sie begab sich auf den weiten Weg, fand die heilige Flamme, entzündete ihr Licht daran und hatte auf dem Rückweg nur eine Sorge: dass ihr Licht erlöschen könnte. Unterwegs traf sie einen, der fror und kein Feuer hatte. Der bat sie, ihm von ihrem Feuer zu geben. Die Frau mit dem Licht zögerte. War ihre Flamme nicht zu kostbar, zu heilig für solch eine gewöhnliche Sache?
Dann aber gab sie dem im Dunkeln Frierenden von ihrem Licht. Die Frau setzte ihren Heimweg fort und als sie beinahe zuhause war, brach ein Unwetter über sie herein. Sie versuchte ihr Licht vor Sturm und Regen zu schützen, aber es erlosch. Den weiten Weg zurück zum Ort der heiligen Flamme würde sie nie mehr schaffen - aber bis zu dem Menschen, dem sie geholfen hatte, reichte ihre Kraft und an dessen Licht konnte sie das ihre wieder entzünden.
Barbara Hug
Wie man in den Wald hinein ruft
Ein Fremder hielt an und fragte den Alten: “Sag, wie sind die Menschen hier in der Stadt?”
“Wie waren sie denn dort, wo Ihr zuletzt gewesen seid?”, fragte der Alte zurück.
“Wunderbar. Ich habe mich dort sehr wohl gefühlt. Sie waren freundlich, großzügig und stets hilfsbereit.”
“So etwa werden sie auch hier sein.”
Dann kam ein anderer Fremder zu dem alten Mann.
Auch er fragte: “Sag mir doch Alter, wie sind die Menschen hier in der Stadt?”
“Wie waren sie denn dort, wo Ihr zuletzt gewesen seid?”, lautete die Gegenfrage.
“Schrecklich. Sie waren gemein, unfreundlich, keiner half dem anderen.”
“So, fürchte ich, werden sie auch hier sein.”
@ZeitzuLeben
Der kleine Baumwollfaden
Es war einmal ein kleiner Baumwollfaden, der hatte Angst, dass es nicht ausreicht, so, wie er war: „Für ein Schiffstau bin ich viel zu schwach“, sagte er sich, „und für einen Pullover zu kurz. An andere anzuknüpfen, habe ich viel zu viele Hemmungen. Für eine Stickerei eigne ich mich auch nicht, dazu bin ich zu blass und farblos. Ja, wenn ich aus Lurex wäre, dann könnte ich eine Stola verzieren oder ein Kleid. Aber so?! Es reicht nicht! Was kann ich schon? Niemand braucht mich. Niemand mag mich – und ich mich selbst am wenigsten.“ So sprach der kleine Baumwollfaden, legte traurige Musik auf und fühlte sich ganz niedergeschlagen in seinem Selbstmitleid.
Währenddessen läuft draußen in der kalten Nacht ein Klümpchen Wachs in der beängstigenden Dunkelheit verzweifelt umher. „Für eine dicke Weihnachtskerze bin ich viel zu klein“ jammert es „und wärmen kann ich kleines Ding alleine auch niemanden. Um Schmuck für eine tolle große Kerze zu sein, bin ich zu langweilig. Ach was soll ich denn nur tun, so alleine in der Dunkelheit?“
Da kommt das kleine Klümpchen Wachs am Häuschen des Baumwollfadens vorbei! Und da es so sehr fror und seine Angst so riesig war, klopfte es schüchtern an die Türe. Als es den niedergeschlagenen kleinen Baumwollfaden sah, kam ihm ein wundeschöner Gedanke. Eifrig sagte das Wachs: „Lass dich doch nicht so hängen, du Baumwollfaden. Ich hab‘ da so eine Idee: Wir beide tun uns zusammen. Für eine große Weihnachtskerze bist du zwar als Docht zu kurz und ich hab‘ dafür nicht genug Wachs, aber für ein Teelicht reicht es allemal. Es ist doch viel besser, ein kleines Licht anzuzünden, als immer nur über die Dunkelheit zu jammern!“
Ein kleines Lächeln huschte über das Gesicht des Baumwollfadens und er wurde plötzlich ganz glücklich. Er tat sich mit dem Klümpchen Wachs zusammen und sagte: „Nun hat mein Dasein doch einen Sinn.“
Glück und Angst
Glück und Angst machten zusammen einen Spaziergang. Angst fragte Glück: «Sag mal, was ist das höchste Glück für einen Menschen?» Glück antwortete: «Wenn ein Mensch sich selbst verliert, die Grenzen seines Ichs verschwinden und er im Namenlosen aufgeht.» Angst nickte verständnisvoll. Dann fragte Glück die Angst: «Was ist die größte Angst eines Menschen?» Angst antwortete: «Dass er sich selbst verlieren könnte, die Grenzen seines Ichs verschwinden und er im Namenlosen aufgehen könnte.» Glück nickte verständnisvoll - und lächelnd setzten sie ihren Spaziergang fort.
Erich Kaniok
Das perfekte Herz
Eines Tages stand ein junger Mann mitten in der Stadt und erklärte, dass er das schönste Herz im ganzen Tal habe. Eine große Menschenmenge versammelte sich, und sie alle bewunderten sein Herz, denn es war perfekt. Es gab keinen Fleck oder Fehler in ihm. Ja, sie alle gaben ihm Recht, es war wirklich das schönste Herz, was sie je gesehen hatten. Der junge Mann war sehr stolz und prahlte noch lauter über sein schönes Herz.
Plötzlich tauchte ein alter Mann vor der Menge auf und sagte: “Nun, Dein Herz ist nicht mal annähernd so schön, wie meines.” Die Menschenmenge und der junge Mann schauten das Herz des alten Mannes an.
Es schlug kräftig, aber es war voller Narben, es hatte Stellen, wo Stücke entfernt und durch andere ersetzt worden waren. Aber sie passten nicht richtig, und es gab einige ausgefranste Ecken…..genauer… an einigen Stellen waren tiefe Furchen, wo ganze Teile fehlten.
Die Leute starrten ihn an. Wie kann er behaupten, sein Herz sei schöner, dachten sie? Der junge Mann schaute auf des alten Mannes Herz, sah dessen Zustand und lachte: “Du musst scherzen”, sagte er, “Dein Herz mit meinem zu vergleichen. Meines ist perfekt und Deines ist ein Durcheinander aus Narben und Tränen.”
“Ja”, sagte der alte Mann, “Deines sieht perfekt aus, aber ich würde niemals mit Dir tauschen. Jede Narbe steht für einen Menschen, dem ich meine Liebe gegeben habe. Ich reiße ein Stück meines Herzens heraus und reiche es ihnen, und oft geben sie mir ein Stück ihres Herzens, das in die leere Stelle meines Herzens passt. Aber weil die Stücke nicht genau sind, habe ich einige rauhe Kanten, die ich sehr schätze, denn sie erinnern mich an die Liebe, die wir teilten. Manchmal habe ich auch ein Stück meines Herzens gegeben, ohne dass mir der andere ein Stück seines Herzens zurückgegeben hat. Das sind die leeren Furchen. Liebe geben heißt manchmal auch ein Risiko einzugehen.
Auch wenn diese Furchen schmerzhaft sind, bleiben sie offen und auch sie erinnern mich an die Liebe, die ich für diese Menschen empfinde und ich hoffe, dass sie eines Tages zurückkehren und den Platz ausfüllen werden. Erkennst du jetzt, was wahre Schönheit ist?”
Der junge Mann stand still da und Tränen rannen über seine Wangen. Er ging auf den alten Mann zu, griff nach seinem perfekten jungen und schönen Herzen und riss ein Stück heraus. Er bot es dem alten Mann mit zitternden Händen an. Der alte Mann nahm das Angebot an, setzte es in sein Herz. Er nahm dann ein Stück seines alten vernarbten Herzens und füllte damit die Wunde des jungen Mannes Herzen. Es passte nicht perfekt, da es einige ausgefranste Ränder hatte. Der junge Mann sah sein Herz an, nicht mehr perfekt, aber schöner als je zuvor, denn er spürte die Liebe des alten Mannes in sein Herz fließen. Sie umarmten sich und gingen weg, Seite an Seite.
Was würde Jesus tun?
Eine Gruppe von Priestern isst mit dem Bischof zu Mittag, wobei sie Geschichten über die neusten Vorgänge in ihren Gemeinden austauschen. Ein junger Priester berichtet über eine Hochzeitsmesse, die er kürzlich gehalten hat. Als es zur Kommunion kam, erblickte er einen Mann und dessen Frau, von denen er wusste, dass sie Protestanten sind, die sich in der Reihe vorwärts bewegten.
Er sagt, er sei in Panik geraten und habe nicht gewusst, was er tun sollte. Dann, sagt er, traf es ihn. „Ich fragte mich einfach, was würde Jesus tun?“ Das Gelächter erstirbt plötzlich, während der Bischof, nun todernst, sich dem jungen Priester zuwendet: „Das haben sie doch nicht getan, oder?“
John L. Allen
Die zwei Krieger
In einem abgelegenen Tempel in den nebelverhangenen Bergen Chinas erzählte ein alter Kung-Fu-Meister seinen Schülern vom Kampf, der sich in ihm selbst, in seinem Innersten abspielte. Der Meister sprach: "In meinem Inneren sind zwei Krieger, die sich bekämpfen. Der eine Krieger ist unbeherrscht, rachsüchtig, rechthaberisch, vorlaut, gierig, stolz, arrogant, wertend und kritisierend. Er ist voller Vorurteile, Selbstmitleid, Ablehnung und Überlegenheit. Ihn plagen Schuldgefühle, Neid und Minderwertigkeitskomplexe!" Die Schüler lauschten gespannt den Worten des Meisters, und der fuhr fort: "Der andere Krieger ist mitfühlend, weise, hilfsbereit, demütig, heiter, friedlich und großzügig. Er ist voller Liebe, Achtsamkeit, Bescheidenheit, Wohlwollen und Einfühlungsvermögen. Er nimmt Anteil, freut sich über das Glück der anderen und besitzt ein gesundes, starkes Selbstvertrauen!" Die Schüler schwiegen. Nach ein paar Minuten der Ruhe fragte ein Schüler den Kung-Fu-Meister: "Meister, welcher der beiden Krieger gewinnt den Kampf?" Der Meister antwortete: "Der Krieger, den ich füttere!"
Die sieben Türen
Ein Schüler und ein Meister standen in einem großen Raum mit 7 geschlossenen Türen. Der Meister sagte zu seinem Schüler: „Eine dieser Türen wird dir beim Durchschreiten Glück und Freude im Leben bringen.“ Dann ließ der Meister seinen Schüler alleine.
Der Schüler wusste nicht, wonach er sich entscheiden sollte. Also schaute er sich die Türen genau an: Ob eine Tür anders war. Ihre Farbe. Ob die Türklinken benutzt aussahen. Ob eine Tür höher oder breiter als die andere war.
Der Schüler studierte die Türen sehr genau, in der Hoffnung, einen Hinweis zu bekommen, welche Tür er durchschreiten sollte. Stunden um Stunden schaute er sich die Türen genauestens an. Doch er konnte keinen wesentlichen Unterschied ausmachen. Nichts, das ihm den entscheidenden Hinweis gab.
Der Schüler schlief erschöpft ein.
Sein Meister kam zurück. Der Schüler wachte auf voller Verzweiflung …und sagte zu seinem Meister: „Meister, ich weiß nicht, wie ich mich entscheiden soll! Bei der einen Tür wirkt die Farbe ein wenig frischer als bei den anderen. Diese Tür dort ist ein wenig breiter als die anderen. Und bei dieser Tür hier glänzt die Klinke besonders hell. Meister, welche Tür soll ich bloß nehmen?“
Der Meister sah seinem Schüler mit seinem herzlichen Blick in die Augen und sagte:
„Mein lieber Schüler, wenn du Glück und Freude in dein Leben bringen willst, kommt es nicht darauf an, für welche Tür du dich entscheidest …sondern darauf, was du tust, nachdem du diese Tür durchschritten hast.“
@ Mathias Rudolph
Der König und seine zwei Söhne
Ein König hatte zwei Söhne. Als er alt wurde, da wollte er einen der beiden zu seinem Nachfolger bestellen. Er versammelte die Weisen des Landes und rief seine beiden Söhne herbei. Er gab jedem der beiden fünf Silberstücke und sprach zu ihnen: "Ihr sollt für dieses Geld die Halle in unserem Schloss bis zum Abend füllen. Womit ihr sie anfüllt, ist eure Sache." Die Weisen des Landes staunten über die Worte des Königs und sprachen: "Das ist eine wirklich gute Aufgabe."
Der älteste Sohn ging davon und kam an einem Feld vorbei, wo die Arbeiter dabei waren, das Zuckerrohr zu ernten und in einer Mühle auszupressen. Das ausgepresste Zuckerrohr lag nutzlos umher. Er dachte sich: "Das ist eine gute Gelegenheit, mit diesem nutzlosen Zeug die Halle meines Vaters zu füllen." Mit dem Aufseher der Arbeiter wurde er einig, und sie schafften bis zum späten Nachmittag das Zuckerrohr in die Halle des Schlosses. Als sie gefüllt war mit dem ausgepressten Zuckerrohr, ging er zu seinem Vater und sagte zu ihm: "Ich habe deine Aufgabe erfüllt. Auf meinen Bruder brauchst du nicht mehr zu warten. Mach mich zu deinem Nachfolger." Der Vater jedoch antwortet: "Es ist noch nicht Abend. Ich werde warten."
Bald darauf kam auch der jüngere Sohn. Er fand die Halle des Schlosses gefüllt mit all dem ausgepresstem Zuckerrohr vor und bat darum, dieses wieder aus ihr zu entfernen. Und so geschah es. Und dann stellte er mitten in die Halle des Schlosses eine einzige Kerze und zündete sie an. Ihr warmer Schein füllte die ganze Halle bis in den letzten Winkel hinein.
Als der Vater die Halle betrat und sie bis in den letzten Winkel hell erleuchtet vorfand, lächelte er, und sein Herz lächelte ebenso, und er sprach zu seinem jüngeren Sohn: "Du sollst mein Nachfolger sein. Dein Bruder hat fünf Silberstücke ausgegeben, um die Halle mit nutzlosem Zeug zu füllen. Du hast nicht einmal ein Silberstück gebraucht und hast sie mit Licht erfüllt. Du hast sie mit dem gefüllt, was die Menschen wirklich brauchen."
Es macht etwas aus...
Ein junger Mann geht allein an einem Strand entlang. Weit hinten sieht er kleine Punkte über den Strand verstreut und die Gestalt einer alten Frau, die sich immer wieder bückt, zum Wasser geht, etwas hineinwirft, dann wieder zurückgeht, sich wieder bückt und wieder etwas zum Wasser bringt.
Als er näher kommt, sieht er, dass der Strand voller Seesterne liegt, die eine schnell fließende Ebbe zurückgelassen hat. Hunderte von Seesternen sterben in der Sonne und eine alte Frau nimmt einen nach dem anderen hoch und bringt ihn ins Wasser zurück. Er staunt über die Unmöglichkeit ihrer Bemühungen und fragt: "Warum tun Sie das bloß? Warum machen Sie sich diese Mühe? Sie können sowieso nicht so viele retten, dass es wirklich etwas ausmachen würde!"
Sie warf wieder einen Seestern ins Wasser und rief in den Wind: "Diesem hier macht es etwas aus!"
Nicht alles auf einmal
Der Mullah, ein Prediger, kam in einen Saal, um eine Rede zu halten. Der Saal war leer bis auf einen jungen Stallmeister, der in der ersten Reihe saß. Der Mullah fragte den Stallmeister: "Es ist niemand außer dir da. Soll ich deiner Meinung nach sprechen oder nicht?" Dieser antwortete: "Herr, ich bin ein einfacher Mann, davon verstehe ich nichts. Aber wenn ich in einen Stall komme und sehe, dass alle Pferde weggelaufen sind und nur ein einziges dageblieben ist, werde ich es trotzdem füttern." Der Mullah nahm sich das zu Herzen und begann seine Predigt. Er sprach über zwei Stunden lang. Danach fühlte er sich sehr erleichtert und glücklich und wollte durch den Zuhörer bestätigt wissen, wie gut seine Rede war. Er fragte: "Wie hat dir meine Predigt gefallen?" Der Stallmeister antwortete: "Ich habe bereits gesagt, dass ich ein einfacher Mann bin und von so etwas nicht viel verstehe. Aber, wenn ich in einen Stall komme und sehe, dass alle Pferde außer einem weggelaufen sind, werde ich es trotzdem füttern. Ich würde ihm aber nicht das ganze Futter geben."
persische Geschichte nach Nossrat Peseschkian
Warum sind wir hier?
Als er eines Abends allein über eine leere Straße ging, sah Mullah Nasrudin einen Reitertrupp auf sich zukommen. Seine Phantasie begann zu arbeiten; er sah sich gefangen und als Sklave verkauft oder zur Armee gepresst. Nasrudin rannte davon, kletterte über eine Mauer in einen Friedhof und legte sich in ein offenes Grab. Die Reiter, ehrliche Reisende, wunderten sich über sein Verhalten und folgten ihm. Sie fanden ihn ausgestreckt daliegend und vor Angst zitternd. „Was machst Du in diesem Grab? Wir sahen dich davonlaufen. Können wir dir helfen?“ „Dass ihr eine Frage stellen könnt, bedeutet noch nicht, dass es eine direkte Antwort darauf gibt“, sagte der Mullah, der jetzt erkannte, was passiert war. „Alles hängt von eurem Standpunkt ab. Wenn ihr es jedoch wissen müsst: Ich bin euretwegen hier, und ihr seid meinetwegen hier.“
Shah
Seltsame Erregung
Sahl Abdullah geriet einst bei einer religiösen Zusammenkunft in einen Zustand heftiger Erregung, der auch körperlich in Erscheinung trat. Ibn Salim sagte: „Was ist das für ein Zustand?“ Sahl sagte: „Dies war nicht, wie du meinst, Stärke,die in mich eintrat. Es war im Gegenteil auf meine eigene Schwäche zurückzuführen.“ Andere, die dabei waren bemerkten: „Wenn das Schwäche war, was ist dann Stärke?“ „Stärke“, sagte Sahl, „ist vorhanden, wenn etwas wie dies eintritt, Geist und Körper aber überhaupt nichts davon erkennen lassen.“
Ibid
Gelassen und furchtlos leben
Es gibt eine Geschichte über einen Zen-Meister, dessen Kloster samt Umgebung von der wilden Zerstörungswut eines barbarischen Generals bedroht wurde. Alle flohen, nur der alte Zen-Meister nicht. Als der General hörte, dass der alte Mönch nicht geflohen war, wurde er zornig und kam, um ihm selbst gegenüber zu treten. Mit gezogenem Schwert sagte er zu dem alten Mann: „Warum bist du nicht geflohen? Weißt du nicht, dass ich dich mit meinem Schwert durchbohren kann, ohne mit der Wimper zu zucken?“ Der Zen-Meister antwortete ruhig: „Und ich kann mich von deinem Schwert durchbohren lassen, ohne mit der Wimper zu zucken.“ Daraufhin soll sich der General umgedreht haben und fortgegangen sein. Dem Tod gelassen ins Auge zu sehen heißt, furchtlos ohne Wut leben zu können.
Seymour Boorstein( in Transp. Psych.)
Die großen Steine
Auf einem Wirtschaftskongress war ein Wissenschaftler eingeladen, vor Managern eines großen internationalen Unternehmens einen Vortrag über effiziente Organisation und Zeiteinteilung zu halten.
Die zahlreich erschienenen Zuhörer erwarten gespannt den Vortrag des angesehenen Referenten, Notizblock und Stift bereit.
Doch der Referent stellte lediglich wortlos eine große Glasvase auf das Pult, die er mit faustgroßen Steinen bis zum Rand füllte. Seine Frage, ob das Gefäß nun voll sei, wurde von den Zuhörern felsenfest beJAt.
Nun nahm er eine Tüte mit kleinen Kieseln, die er im Glas zwischen den großen Steinen verteilte. Als er fragte, ob das Gefäß nun wirklich voll wäre, sagte das Publikum zögernd: „Wohl eher nicht.“
Dann leerte er eine Tüte Sand in das Gefäß und die Zuschauer sagten: „Nein ganz voll ist das Gefäß noch nicht.“
Nachdem er schließlich das Ganze mit Wasser aufgefüllt hatte, fragte er, was diese Vorführung wohl sagen will.
Einer der Manager sagte ganz beflissen, dass man bei etwas guten Willen immer noch eine Lücke für zusätzliche Aufgaben finden kann, auch wenn man vorher glaubte bereits ausgelastet zu sein.
„Nein!“, antwortete der Referent, „das ist es nicht, was das Experiment verdeutlichen soll. Es geht um etwas wesentlich anderes: Wenn die großen Steine nicht als Erstes in das Glas gelegt werden, dann wird es später unmöglich sein sie noch unterzubringen.
Die großen Steine stehen für die Prioritäten in unserem Leben. Sind das vielleicht Freunde, die Gesundheit oder die Familie? Was es auch immer ist; wenn wir unseren Prioritäten nicht in erster Linie den gebührenden Platz verschaffen, dann werden Nebensächlichkeiten, wie die Kiesel und der Sand, unser Leben überschwemmen, so dass wir niemals mehr die nötige Zeit für die wichtigen Dinge in unserem Leben finden können.“
Und er beendete den Vortrag mit den Worten: „Vergesst also niemals euch zu fragen, was die großen Steine in eurem Leben sind, die immer die erste Stelle darin einnehmen sollen!“
- nach anonym erzählt -
Zhuangzi oder Schmetterling
Einst träumte Zhuangzi, dass er ein Schmetterling sei, der beschwingt umherflatterte. Er hatte Freude an sich und folgte allen seinen Regungen. Dabei wusste er nicht, dass er Zhuangzi war. Plötzlich wurde er wach und er war eindeutig wieder Zhuangzi. Aber nun wusste er nicht, ob er Zhuangzi war, der geträumt hat, er sei ein Schmetterling geworden, oder ob er ein Schmetterling war, der träumt, er sei Zhuangzi geworden. Es gibt aber gewiss zwischen Zhuangzi und einem Schmetterling einen Unterschied. Dies ist damit gemeint, wenn gesagt wird: „Die Wesen unterliegen dem Wandel.“
Der alte Großvater und der Enkel
Es war eimal ein steinalter Mann, dem waren die Augen trüb geworden, die Ohren taub, und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun bei Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch, und es floss ihm auch etwas wieder aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor, und deswegen musste sich der alte Großvater endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen, und sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen, und noch dazu nicht einmal satt; da sah er betrübt nach dem Tisch, und die Augen wurden ihm naß. Einmal auch konnten seine zittrigen Hände das Schüsselchen nicht festhalten, es fiel zur Erde und zerbrach. Die junge Frau schalt, er sagte aber nichts und seufzte nur. Da kauften sie ihm ein hölzernes Schüsselchen für ein paar Heller, daraus musste er nun essen.
Wie sie da so sitzen, so trägt der kleine Enkel von vier Jahren auf der Erde kleine Brettlein zusammen.
"Was machst du da?", fragte der Vater.
"Ich mache ein Tröglein", antwortete das Kind, "daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin."
Da sahen sich Mann und Frau eine Weile an, fingen endlich an zu weinen, holten alsofort den alten Großvater an den Tisch und ließen ihn von nun an immer mit essen, sagten auch nichts wenn er ein wenig verschüttete.
Gebrüder Grimm
Die zwei Kammern
Eines Tages begegnete ich einer alten Frau. Ihr Gesicht hatte Furchen, kreuz und quer. Über ihren Augen zogen sich traurige Linien zusammen, aber in ihren alten Wangen waren die Grübchen ihres Lachens geblieben. Sie schaute mich an und sagte:
„In deinem Gesicht ist lauter Trauer, deine Augen sind ohne Glanz, und dein Mund ist hart geworden“.
„Ich bin in Trauer“, sagte ich entschuldigend.
Da sagte die alte Frau: „Richte in deinem Herzen zwei Kammern ein, eine für die Freude und eine für die Trauer. Kommt Trauer über dich, dann öffne die Kammer der Trauer. Kommt aber Freude über dich, dann öffne die Kammer der Freude“.
Und mit einem Lächeln fügte sie bei:
„Den Toten ist wohler in den Kammern der Freude“.
heilende Transformation:
In einem abgelegenen kleinen Ort lebten die Menschen friedlich nebeneinander, in ihren hübschen Häusern, mit den Gärten daran, aus denen sie sich ernährten. Der Wuchs der Kräuter, Gemüse und Früchte war zwar spärlich, aber wenn man alles schön für sich behielt und niemandem etwas davon abgab, dann ging es schon. Gäste waren natürlich nicht willkommen, aber die blieben eh fern, denn die Einwohner des Ortes handhabten es seit jeher so, dass sie all ihren Abfall, die Essensreste und den Kot auf die Straße vor dem Haus warfen. Zwar stank ihnen die Sache selbst oft ganz schön an, aber sie machten sich keine großen Gedanken darüber. Hauptsache, ihr Grundstück war frei von Müll. Ja, ab uns zu flammte in dem einen oder anderen schon mal die Frage auf, warum sie so oft krank sind, warum nie Besuch kommt und warum die Pflanzen in ihren Gärten nicht üppiger wachsen, aber keiner machte sich die Mühe der Frage weiter nachzugehen. Eines Nachts träumte einem, er sähe einen Engel, der sprach: „Wenn du für deinen Abfall einen Platz in deinem Garten nutzt, dann kann er zu reichhaltiger Erde kompostieren, mit der du dann die Beete düngen kannst.“ Der Mann folgte diesem Rat, und schon im nächsten Jahr brachte sein Garten so viel Ertrag, dass er sogar hätte etwas davon hergeben können. Die Nachbarn fragten, wie das zuginge und taten es ihm gleich. Bald hatte jeder seinen eigenen Komposthaufen, mit dem er seinen Abfall in lebenspendende Energie umwandeln konnte. Plötzlich nahmen sie wahr, wie angenehm frisch die Luft duften kann; sie merkten, dass ihre Kinder kaum noch krank wurden und sie wunderten sich erfreut darüber, dass sie auf einmal Besuch bekamen, den sie aus ihren Gärten reich bewirten konnten. Viele der Gäste hatten selbst keinen Garten und wussten zuhause oftmals nicht, wohin mit ihren Essensresten. So bürgerte es sich ein, dass sie ihre Kompostabfälle zu den Gartenleuten brachten und dafür energiereiche Nahrung erhielten.
Bettina Bauch
Eine Rose von Homers Grab - Hans Christian Andersen
In allen Liedern des Orients erklingt die Liebe der Nachtigall zu der Rose. In den schweigenden, sternklaren Nächten bringt der geflügelte Sänger seiner duftenden Blume eine Serenade dar.
Nicht weit von Smyrna, unter den hohen Platanen, wo der Kaufmann seine belasteten Kamele treibt, die stolz ihre langen Hälse erheben und schwerfällig über eine Erde stampfen, die heilig ist, sah ich eine blühende Rosenhecke. Wilde Tauben flogen zwischen den Zweigen der hochstämmigen Bäume, und die Flügel der Tauben glänzten, wenn ein Sonnenstrahl darüber hinglitt, als seien sie aus Perlmutter gemacht.
In der Rosenhecke war eine Blüte von allen die schönste, und für sie sang die Nachtigall von ihrem Liebesschmerz, aber die Rose war stumm, nicht ein Tautropfen lag, wie eine Träne des Mitleidens, auf ihren Blättern, sie neigte sich auf ihrem Zweige über einige große Steine.
»Hier ruht der Erde größter Sänger!« sagte die Rose, »über seinem Grabe will ich duften, meine Blätter will ich darauf verstreuen, wenn der Sturm sie mir abstreift. Der Ilias' Sänger ward zu Erde in dieser Erde, aus der ich sprieße! – Ich, eine Rose von Homers Grab, bin zu heilig, um für eine armselige Nachtigall zu blühen!«
Und die Nachtigall sang sich zu Tode!
Der Kameltreiber kam mit seinen beladenen Kamelen und seinen schwarzen Sklaven. Sein kleiner Sohn fand den toten Vogel und beerdigte ihn in des großen Homers Grab; und die Rosen bebten im Winde. Der Abend kam. Die Rose faltete ihre Blätter dichter zusammen und träumte,- sie träumte, es wäre ein herrlicher Sonnentag. Eine Schar fremder fränkischer Männer kam her, sie hatten eine Pilgerreise zu Homers Grab gemacht. Unter den Fremden war ein Sänger aus dem Norden, aus der Heimat der Nebel und Nordlichter. Er brach die Rose, preßte sie in einem Buche und nahm sie so mit sich nach einem anderen Weltteil hinüber, mit nach seinem fernen Vaterland. Und die Rose welkte vor Kummer und lag in dem engen Buche, das er in seinem Heim öffnete, und er sagte: »Hier ist eine Rose von Homers Grab.«
Sieh, das träumte die Blume und sie erwachte und zitterte im Windel Ein Tautropfen fiel von ihren Blättern auf des Sängers Grab; da ging die Sonne auf, und die Rose blühte schöner als zuvor. Der Tag wurde heiß, es war ja im heißen Asien. Da schallten Fußtritte, fremde Franken kamen, wie sie die Rose im Traume gesehen hatte, und unter diesen Fremden war ein Dichter aus dem Norden; er brach die Rose, drückte einen Kuß auf ihren frischen Mund, und führte sie mit sich in die Heimat der Nebel und der Nordlichter. Wie eine Mumie ruht nun die Blumenleiche in seiner llias, und wie im Traume hört sie ihn das Buch öffnen und sagen: »Hier ist eine Rose von Homers Grab!«
Gott spricht durch Jesus:
"Dann wird es mit dem Himmelreich sein wie mit zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und dem Bräutigam entgegengingen. Fünf von ihnen waren töricht, und fünf waren klug. Die törichten nahmen ihre Lampen mit, aber kein Öl, die klugen aber nahmen außer den Lampen noch Öl in Krügen mit. Als nun der Bräutigam lange nicht kam, wurden sie alle müde und schliefen ein. Mitten in der Nacht aber hörte man plötzlich laute Rufe: Der Bräutigam kommt! Geht ihm entgegen! Da standen die Jungfrauen alle auf und machten ihre Lampen zurecht. Die törichten aber sagten zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, sonst gehen unsere Lampen aus. Die klugen erwiderten ihnen: Dann reicht es weder für uns noch für euch; geht doch zu den Händlern und kauft, was ihr braucht. Während sie noch unterwegs waren, um das Öl zu kaufen, kam der Bräutigam; die Jungfrauen, die bereit waren, gingen mit ihm in den Hochzeitssaal, und die Tür wurde zugeschlossen. Später kamen auch die anderen Jungfrauen und riefen: Herr, Herr, mach uns auf! Er aber antwortete ihnen: Amen, ich sage euch: Ich kenne euch nicht. Seid also wachsam! Denn ihr wißt weder den Tag noch die Stunde." Matthäus 25,1-13
Zwillinge unterhalten sich im Mutterleib:
„Glaubst du eigentlich an ein Leben nach der Geburt?“
„Ja, das gibt es. Unser Leben hier ist nur dazu gedacht, dass wir wachsen und uns auf das Leben nach der Geburt vorbereiten, damit wir stark genug sind für das, was uns erwartet.“
„Blödsinn, das gibt es doch nicht. Wie soll denn das überhaupt aussehen, ein Leben nach der Geburt?“
„Das weiß ich auch nicht genau. Aber es wird sicher viel heller als hier sein. Und vielleicht werden wir herumlaufen und mit dem Mund essen?“
„So ein Unsinn! Herumlaufen, das geht doch gar nicht. Und mit dem Mund essen, so eine komische Idee. Es gibt doch die Nabelschnur, die uns ernährt. Außerdem geht das Herumlaufen gar nicht, die Nabelschnur ist ja jetzt schon viel zu kurz.“
„Doch es geht ganz bestimmt. Es wird eben alles nur ein bisschen anders.“
„Es ist noch nie einer zurückgekommen von ‚nach der Geburt‘. Mit der Geburt ist das Leben zu Ende. Und das Leben ist eine Quälerei und dunkel.“
„Auch wenn ich nicht so genau weiß, wie das Leben nach der Geburt aussieht, jedenfalls werden wir dann unsere Mutter sehen und sie wird für uns sorgen.“
„Mutter? Du glaubst an eine Mutter? Wo ist sie denn bitte?“
„Na hier, überall um uns herum. Wir sind und leben in ihr und durch sie. Ohne sie können wir gar nicht sein!“
„Quatsch! Von einer Mutter habe ich noch nie etwas bemerkt, also gibt es sie auch nicht.“
„Doch, manchmal, wenn wir ganz still sind, kannst du sie singen hören. Oder spüren, wenn sie unsere Welt streichelt.“
Henry Nouwen
Konfuzius
Auf einer Reise legten Konfuzius und seine Begleiter eine Pause ein. Ein Pferd aus dem Tross lief weg und begann, auf dem Feld eines Bauern zu grasen. Der Bauer ärgerte sich darüber und hielt das Pferd bei sich zurück. Ein Schüler von Konfuzius, ein Gelehrter auf dem Gebiet des Überzeugens, meldete sich freiwillig, um zu dem Bauern zu gehen. Er hielt vor diesem eine bewegende Ansprache. Der Bauer aber schenkte ihm keine Beachtung. Ein einfacher Mann, der seit kurzem mit auf der Reise war, bat Konfuzius: „Lass mich die Aufgabe übernehmen.“ Er sagte zu dem Bauern, „Du hast dein Land hier im Westen und wir haben unseres im Osten. Wenn du zu uns in den Osten kommst, wo du kein Land hast, darf dein Pferd auf unserem Land weiden. Wenn wir in den Westen kommen, wo wir kein Land haben, wo kann dann unser Pferd grasen, wen es nicht auf dein Feld darf?“ Als der Bauer das hörte, war er begeistert. Er sagte: „Klar und einfach zu reden, das ist die rechte Art und nicht so wie der Mann vorher.“ Das Pferd durfte zurückkehren.
nach Nossrat Peseschkian
Für eine besondere Gelegenheit
Ein Mann öffnet eine Schublade der Kommode seiner Frau und holt daraus ein kleines, in Seide gewickeltes, Paket hervor. Darin findet er edle Wäsche. Sinnierend streicht er über die zarte Seide und die feinen Spitzen: ‚Dies hab ich ihr vor Jahren in New York gekauft, aber sie hat es nie getragen’, denkt er, ‚sie wollte es aufbewahren für eine besondere Gelegenheit. Nun ja, ich glaube jetzt ist dieser Moment gekommen.’ Er geht zum Bett seiner Frau und legt das Päckchen zu ihren anderen Sachen, die der Bestatter mitnehmen würde.
Warten auf die Seele
Auf einer Expedition in Afrika machen eines Tages die afrikanischen Lastenträger Halt und legen das, was sie tragen, auf die Erde. Sie gehen keinen Schritt weiter. Der weiße Expeditionsleiter drängt zum Weitergehen. Die Männer jedoch erklären ihm: "Wir sind bisher zu schnell gelaufen, jetzt müssen wir warten, bis unsere Seelen nachkommen."
Fußspuren im Sand
Ich träumte eines Nachts, ich ging am Meer entlang mit Jesus und es entstand vor meinen Augen, Streiflichtern gleich, mein Leben.
Nachdem das letzte Bild an uns vorbeigeglitten war, sah ich zurück und stellte fest, dass in den schwersten Zeiten meines Lebens nur eine einzelne Spur zu sehen war.
Das verwirrte mich sehr und ich wandte mich an Jesus: "Als ich dir damals alles, was ich hatte, übergab, um dir zu folgen, da sagtest du, du würdest immer bei mir sein. Warum hast du mich alleingelassen, als ich dich so verzweifelt brauchte?"
Jesus nahm meine Hand: "Geliebtes Kind, nie ließ ich dich allein, schon gar nicht in den Zeiten der Angst und Not. Wo du nur ein Paar Spuren im Sand erkennst, sei ganz gewiss: Ich habe dich getragen"
Die drei Siebe
Zum weisen Sokrates kam einer gelaufen und war voll Aufregung. "Höre, Sokrates, das muss ich dir erzählen, wie dein Freund..." "Halt ein!" unterbrach ihn der Weise, "hast du das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe gesiebt? Laß sehen, ob das, was du mir zu sagen hast, durch die drei Siebe hindurch geht.
Das erste Sieb ist die Wahrheit. Hast du alles, was du mir erzählen willst, geprüft, ob es wahr ist?" "Nein, ich hörte es erzählen und..."
"So, so! Aber sicher hast du es mit dem zweiten Sieb geprüft, es ist das Sieb der Güte. Ist das, was du mir erzählen willst - wenn es schon nicht als wahr erwiesen - so doch wenigstens gut?" Zögernd sagte der andere: "Nein, im Gegenteil..."
"Hm", unterbrach ihn der Weise, "so lass uns auch das dritte Sieb noch anwenden und lass uns fragen, ob es notwendig ist, mir das zu erzählen, was dich so erregt!" "Notwendig nun gerade nicht..."
"Also", lächelte der Weise, "wenn das, was du mir erzählen willst, weder wahr, noch gut, noch notwendig ist, so lass es begraben sein und belaste dich und mich nicht damit!"
Was ist Freiheit
Ein Jünger wandte sich an einen Meister: "Sage mir, was Freiheit ist!"
"Welche Freiheit?", fragte ihn der Meister:
"Die erste Freiheit ist die Torheit. Sie gleicht dem Ross, das seinen Reiter wiehernd abwirft. Doch um so fester spürt es nachher seinen Griff.
Die zweite Freiheit ist die Reue. Sie gleicht dem Steuermann, der nach dem Schiffbruch auf dem Wrack zurück bleibt, statt dass er in ein Rettungsboot steigt.
Die dritte Freiheit ist die Einsicht. Sie kommt nach der Torheit und der Reue. Sie gleicht dem Halm, der sich im Winde wiegt und, weil er, wo er schwach ist, nachgibt, steht."
Der Jünger fragte: "Ist das alles?"
Darauf der Meister: "Manche meinen, sie selber suchten nach der Wahrheit ihrer Seele. Doch die große Seele denkt und sucht durch sie. Wie die Natur kann sie sich sehr viel Irrtum leisten, denn falsche Spieler ersetzt sie laufend mühelos durch neue. Dem aber, der sie denken lässt, gewährt sie manchmal etwas Spielraum, und wie ein Fluss den Schwimmer, der sich treiben lässt, trägt sie ihn mit vereinter Kraft ans Ufer."
aus "Ordnungen der Liebe" von Bert Hellinger
Der Faden
Eines schönen Morgens glitt vom hohen Baum am festen Faden eine Spinne herab. Unten im Gebüsch baute sie ihr Netz, das sie im Laufe des Tages immer großartiger entwickelte und mit dem sie reiche Beute fing. Als es Abend geworden war, lief sie ihr Netz noch einmal ab und fand es herrlich. Da entdeckte sie auch wieder den Faden nach oben, den sie über ihrer betriebsamen Geschäftigkeit ganz vergessen hatte. Doch verstand sie nicht mehr, wozu er diene, hielt ihn für überflüssig und biss ihn kurzerhand ab. Sofort fiel das Netz über ihr zusammen, wickelte sich um sie, wie ein nasser Lappen und erstickte sie.
nach Jörgensen
Gnade geht vorbei
Als es nach langen Regenfällen eine große Überschwämmung gab, kletterte ein Rabbi auf das Dach eines Hauses und betete, dass Gott ihn rette. Schon kurz danach ruderte ein Mann mit einem Boot auf ihn zu, um ihn zu retten. Der Rabbi aber sagte: "Gott wird mich retten", und schickte ihn fort.
Dann kam ein Rettungshubschrauber, um ihn aufzunehmen, doch auch den schickte er fort. Schließlich ertrank er.
Als der Rabbi dann vor Gottes Thron im Himmel kam und sich beschwerte, dass er ihm nicht geholfen habe, sagte Gott: "Ich habe dir ein Boot geschickt und ich habe dir einen Hubschrauber geschickt."
aus "Ordnungen der Liebe" von Bert Hellinger
Der Lauf des Lebens
Eine Hummel flog zur Kirschblüte, trank den Nektar, war satt und zufrieden und flog davon.
Doch dann hatte sie Gewissensbisse. Sie kam sich vor wie jemand, der genommen hat, ohne selber zu geben. "Was mache ich nur?", dachte sie, doch sie konnte sich nicht entscheiden, und so vergingen Wochen und Monate.
Dann aber ließ es ihr keine Ruhe mehr. Sie sagte sich: "Ich muss zurück zur Kirschblüte und ihr von Herzen danken!" Sie machte sich auf den Flug, fand den Baum, den Ast, den Zweig, die genaue Stelle, wo die Kirschblüte gewesen war; aber sie war nicht mehr da. Die Hummel fand nur eine dunkelrote reife Frucht.
Da wurde die Hummel traurig. Sie sagte sich: "Nie mehr werde ich der Kirschblüte danken können; für immer ist die Gelegenheit verpasst. Aber es soll mir eine Lehre sein!"
Noch während sie darüber nachdachte, stieg ein süßer Duft in ihre Nase, ein rosa Blütenkelch winkte, und mit Lust stürzte sie sich in ein neues Abenteuer.
aus "Ordnungen der Liebe" von Bert Hellinger
„Denken Sie einfach!"
Toleranz kann man nicht exportieren, man braucht es auch nicht, glaube ich. Manchmal klingt es, als hätten wir da etwas erfunden, was die anderen nicht haben. Die Buddhisten zumindest haben es. Ihre Stärke ist, dass der Buddhismus keine wirkliche Religion ist, er ist eine Methode zu denken. Ja, Buddha wird verehrt, aber seine Gläubigen praktizieren trotzdem eine andere Religion als im westlichen Sinne. Die Prister sind anders, viel zurückhaltender, und es gibt nicht so gefürchtete Regeln wie bei uns. Das macht den Buddhismus so attraktiv für viele Leute hier, sie fühlen sich unwohl in dem westlichen Korsett. Manch selbstbewusster Mensch geht lieber zu einer Religion, die ihm nicht so viele Vorschriften macht. Ein fabelhaftes Beispiel für einen vorurteilslosen Menschen ist der Dalai Lama. Er sagt: "Ich will niemanden konvertieren, bleiben Sie ruhig bei Ihrer Religion, denken Sie einfach nur."
Ähnlich liberal sind auch die Aleviten in der Türkei.
aus „Achtung! Vorurteile" von Sir Peter Ustinov
Toleranz oder Der andere, das könntest du sein
Meine Lebenserfahrung sagt mir, dass der Hass auf andere Menschen Selbsthass ist, getarnter Selbsthass. Wer andere verachtet, kann sich selbst nicht mögen. Gegen die Verachtung wurde uns die Toleranz gepredigt, und in vielen Jahrhunderten, in denen sie alles andere als selbstverständlich war, hätte sie das Leben zwischen fremden Kulturen erträglicher gemacht. Doch ist sie wirklich die Lösung der weltweiten Probleme, die Toleranz? Obwohl ich pragmatisch bleiben will: Ich glaube, sie reicht nicht ganz. Denn Toleranz heißt: Duldung. Die Toleranz, so human sie ist, fordert uns auf, den anderen zu dulden. Mir ist das etwas zu wenig. Ich gehe mit Zeitgenossen, wie dem wunderbaren Journalisten Georg Stefan Troller. Er wurde gefragt, warum er so viele Filme über Behinderte gedreht habe und über Strafgefangene. Er gab zur Antwort: "Weil wir alle irgendwie behindert sind. Durch den Krieg, durch die Eltern, durch enttäuschte Liebe." Und über die Gefangenen: "Es kommt darauf an, dass die Zuschauer sogar bei einem ihm fremden, anfangs ganz unsympathischen Menschen sagen: 'Das bin ja ich.' " Nicht also nur auf Toleranz des mir Fremden, auf den Respekt vor ihm kommt es mir an. Denn der oder die andere, der oder die mir da auf der Straße im Rollstuhl oder in einem fernen Land begegnet: Der oder die andere könnte ich selber sein. Nur ein Zufall, nichts als ein Zufall hat es anders gewollt.
aus „Achtung! Vorurteile" von Sir Peter Ustinov
I am perfec!
Irgentwo auf meinen Reisen durch die Welt - ich weiß nicht mehr wo - stand ich plötzlich vor einer Häuserwand. Auf die hatte ein hintersinniger Witzbold ein Graffito gemalt: "I am perfac!" Eine Sekunde lang war ich verwirrt und dachte: Kann der Typ kein Englisch? Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Der Sprüher hatte das kleine "t" absichtlich eingespart. Wer weiß, womöglich war ein kluger Gott der Schmierfink.
aus „Achtung! Vorurteile" von Sir Peter Ustinov
Wie perfekt sind Gott und sein Schatten, der Teufel?
Warum ist die Königin der Nacht so schön, und warum singt sie so schön bei Mozart? Sie ist ja eigentlich eine negative Gestalt. Eine Hexe. Ich habe dazu in meinem Roman "Der alte Mann und Mr. Smith" den Teufel zu Gott ungefähr sagen lassen: "Ich bin nach Milliarden von Jahren noch wütend darüber, dass du mich aus dem Himmel geschmissen hast. Ich glaube, ich weiß, warum du das gemacht hast: Weil immer alles hell war im Himmel, wurde es dir langweilig. Du musstest, um strahlender als alle anderen zu leuchten, einen Kontrast zu dir erfinden, sonst hätte man dich nicht als den erkannt, der du bist." Gott: "Du bist nicht dumm, Teufel. Das ist eine tolle Idee." Dann gibt sich der Teufel menschlich und sagt: "Aber ich bin empört darüber, dass so viele Leute gefoltert und sogar getötet wurden für ihren Glauben und und so wenig Leute für das, was sie wirklich gemacht haben. Es darf doch keine Rolle spielen, was die Leute denken, aber es sollte eine Rolle spielen, was sie machen." Gott: "Ja, ich bin ganz deiner Meinung, mir ist es völlig egal, ob die Leute einen Baum anbeten oder den Mond oder einen Vulkan. Allein wichtig ist, dass sie meditieren und nachdenken. Es ist gar nicht wichtig, wen sie verehren, denn ich bin abstrakt. Niemand hat mich je getroffen. So weit, so gut, Teufel, aber nun verrate mir bitte, woher du mich so genau kennst." Der Teufel: "Hast du vergessen, dass ich einst dein Engel war, bevor du mich in die Hölle geschickt hast? Ich bin und bleibe dein Schatten. Ohne mein garstiges Gegenbild gäbe es die schönen Gemälde von dir nicht. Meine Schlechtigkeit ist die Zwillingsschwester deiner Güte. So, wie wir uns auch einen Berg nur durch das Tal verstellen können."
Am Ende des Dialogs ist Gott erleichtert: "Wir waren so lange Feinde, Teufel, und ich werde auch in Zukunft einen anderen Job machen als du, einen guten. Aber nun habe ich begriffen, dass er als gut nur erkannt werden kann, weil du mir ständig in die Suppe spuckst." Auf diese Weise wird Gott sehr menschlich. Und er muss es werden. Sonst ist der Weg zu ihm noch weiter. In Lessings "Nathan der Weise" heißt es in der berühmten Ringparabel, der Toleranzgedanke beruhe darauf, dass es einerlei sei, wie Gott aussehe. Das einzig Wichtige sei, dass in allen Religionen die Vorstellung von etwas Gutem anklinge. Ich füge gern hinzu: und von etwas Demokratischem.
aus „Achtung! Vorurteile" von Sir Peter Ustinov
Sie Rüpel!
Kennen Sie die Geschichte des Mannes ohne Hammer, der an einem Sonntagnachmittag ein Bild aufhängen will? Sie ist in dem Büchlein "Anleitung zum Unglücklichsein" versteckt. Unser Mann beschließt also, den Hammer beim Nachbarn auszuborgen: "Doch dann kommt ihm ein Zweifel: Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig...Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht?...Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß, weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht's mir wirklich. - Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch bevor er guten Tag sagen kann, schreit ihn unser Mann an: 'Behalten Sie Ihren Hammer, Sie Rüpel.' "
aus „Achtung! Vorurteile" von Sir Peter Ustinov
Pech, Glück? wer weiß?
Ein Bauer hatte für die Feldarbeit ein altes Pferd. Eines Tages entfloh das Pferd in die Berge, und als alle Nachbarn des Bauern sein Pech bedauerten, antwortete der Bauer: „Glück? Pech? Wer weiß?”
Eine Woche später kehrte das Pferd mit einer Herde Wildpferde aus den Bergen zurück und diesmal gratulierten die Nachbarn dem Bauern wegen seines Glücks. Seine Antwort hieß: „Glück? Pech? Wer weiß?”
Als der Sohn des Bauern versuchte, eines der Wildpferde zu zähmen, fiel er vom Rücken des Pferdes und brach sich ein Bein. Jeder hielt das für ein großes Pech. Nicht jedoch der Bauer, der nur sagte: „Glück? Pech? Wer weiß?”
Ein paar Wochen später marschierte die Armee ins Dorf und zog jeden tauglichen jungen Mann ein, den sie finden konnten. Als sie den Bauernsohn mit seinem gebrochenen Bein sahen, ließen sie ihn zurück.
War das nun Glück? Pech? Wer weiß?
Eine chinesische Geschichte
hinter allem steht Bewusstsein
Gespräch aus „Östliches und westliches Denken”
„Die Diskussion schien einen toten Punkt erreicht zu haben. Plötzlich wandte sich der Inder, während er auf die Blumen hinwies, die in reicher Pracht im Garten vor unseren Augen wuchsen, mit einer unerwarteten und scheinbar bedeutungslosen Frage mir zu: Gegen welchen Hintergrund sehen Sie diese Blumen?, fragte er.
Gegen den Hintergrund jener Sträucher, antwortete ich.
Und gegen welchen Hintergrund sehen Sie jene Sträucher?, fuhr er fort.
Gegen den Hintergrund jener Bäume.
Und gegen welchen Hintergrund sehen Sie jene Bäume?
Wieder antwortete ich. Und so folgte eine Frage und ihre auf der Hand liegende Antwort der nächsten, bis folgende Frage aufkam:
Gegen welchen Hintergrund sehen Sie jene Wolken, die sich jenseits der Berge bewegen?
Die Antwort war natürlich: Gegen den Himmel.
Und dann kam die letzte Frage, ebenso ruhig, wie die vorhergehenden vorgebracht: Und gegen welchen Hintergund sehen Sie den Himmel?
Völlig verblüfft wusste ich keine Antwort. Der Inder wandte sich zu mir und sagte mit seiner sanften Stimme: Ich werde es Ihnen sagen: gegen den Hintergrund des Bewusstseins.
Ebenso hätte der Inder den schwierigen Weg nach Innen wählen und fragen können: Was steht hinter meinen Gedanken, Gefühlen, Instinkten...?
Und die Antwort wäre wieder: das Bewusstsein.
Diese einfache Entdeckung des Bewusstseins als letzte Instanz der äußeren und der inneren Welt ist für den westlichen Menschen von enormer Sprengkraft. Sie löst ihn von der materialistischen Anschauung, die nur die Raum-Zeit-Dimension erfasst, und von dem seit der griechischen Philosophie im Westen verankerten Vertrauen auf den Verstand, auf das Denken der letzten Instanz des inneren, geistigen Menschen.”
Wir verkaufen Samen
Ein junger Mann betrat im Traum einen Laden. Hinter der Theke stand ein Engel.
Hastig fragte er ihn: "Was verkaufen Sie, mein Herr?"
Der Engel antwortete freundlich: "Alles, was Sie wollen."
Der junge Mann begann aufzuzählen: "Dann hätte ich gerne das Ende aller Kriege auf der Welt, bessere Bedingungen für die Randgruppen der Gesellschaft, Beseitigung der Elendsviertel in Lateinamerika, Arbeit für die Arbeitslosen, mehr Gemeinschaft und Liebe in der Kirche und ... und ..."
Da fiel ihm der Engel ins Wort: "Entschuldigen Sie, junger Mann, Sie haben mich falsch verstanden. Wir verkaufen keine Früchte, wir verkaufen Samen."
Ein besonderes Geschenk
Eine weise Frau reiste durch die Berge, wo sie eines Tages, in einem Bachlauf einen sehr, sehr wertvollen Stein fand.
Am nächsten Tag traf sie einen anderen Wanderer. Der Mann war hungrig und die weise Frau öffnete ihre Tasche, um mit ihm ihr Brot zu teilen. Dabei sah der Wanderer den wundervollen Stein in der Tasche liegen und sagte: „Gib mir den Stein.“ Ohne jedes Zögern reichte die Frau ihm den Stein. Schnell machte der Mann sich davon, denn er erkannte sehr wohl den Wert des Steins und wusste, dass er damit den Rest seines Lebens sorgenfrei leben konnte.
Doch einige Tage später kam der Mann zurück zu der weisen Frau, um ihr den Stein wiederzugeben.
„Ich habe nachgedacht“, sagte er, „ich weiß, wie wertvoll dieser Stein ist, aber ich gebe ihn dir zurück, in der Hoffnung, dass du mir etwas viel Wertvolleres dafür schenken kannst. Gib mir doch bitte etwas davon, das es dir möglich machte, mir diesen Stein zu schenken.“
Autor unbekannt
Wie ein Wanderer
Wie ein Wanderer in einer mondlosen Nacht, der auf eimem einsamen Pfad schreitet. Und der Pfad verschmilzt in der Dunkelheit mit dem Berg, und der Berg verschmilzt mit dem Himmel. Doch in der Mitte des Weges, an einer Biegung angelangt, tritt der Wanderer ins Leere. Im Fallen klammert er sich an ein Grasbüschel, was seinen schicksalhaften Fall aufhält. Doch die Kraft in seinen Händen lässt nach, und er wirft, wie ein zum Tode Verurteilter, einen letzten Blick in die Tiefe und sieht nur undurchdringliche Finsternis. Doch dann hallt eine Stimme an sein Ohr: "Lass los! Der feste Grund ist gleich unter deinen Füßen." Der Unverzagte folgt der Aufforderung und landet heil auf einem Pfad, der sich kaum einen Chi unter ihm befindet.
Dai Sijie
Kraft der Demut
Eines Tages ging Abba Makarios, aus dem Sumpfland kommend, zu seiner Zelle zurück. Er hatte einige Palmblätter bei sich. Unterwegs kam der Teufel auf ihn zu. Er trug eine Sichel bei sich und wollte damit auf den Abt einschlagen, aber es gelang ihm nicht. Da sagte der Teufel zu ihm: „Makarios, ich leide schreckliche Qualen deinetwegen, weil ich dich nicht besiegen kann. Und doch, ich mache alles, was du tust: du fastest – und ich esse nie; du wachst – und ich schlafe überhaupt nicht. In einer einzigen Sache nur schlägst du mich.“ „In welcher denn?“ fragte Makarios. „Deine Demut ist es, die mich dich nicht besiegen lässt.“
Wüstenväter
Loslassen, was geschehen ist
Ein junger und ein alter Mönch laufen einen Pfad entlang. Sie kommen zu einem Fluss mit starker Strömung. Als sie sich bereit machen, ihn zu überqueren, sehen sie eine hübsche junge Frau, die nicht ans andere Ufer gelangt. Sie bemerkt die Mönche und bittet sie um Hilfe. Der alte Mönch nimmt sie auf die Schulter und trägt sie über den Fluss. Sie bedankt sich und geht ihrer Wege. Der junge Mönch ist sauer. So richtig sauer.
Stunden später ist er noch immer sauer. Der alte Mönch fragt ihn, was los ist. „Als Mönche ist es uns nicht erlaubt, junge Frauen anzufassen! Wie konntest Du sie über den Fluss tragen?“. Der alte Mönch antwortet: „Ich hab die Frau vor Stunden am Ufer gelassen, aber wie’s aussieht, trägst Du sie noch immer mit Dir herum.“
ZEN
Loslassen, was du zu sehr willst
Ein Schüler geht zu einem Meister. Er sagt, er wolle unbedingt dessen Kampfkünste lernen. Und fragt, wie lange das wohl dauern würde.
„Zehn Jahre“, antwortet der Meister.
Der ungeduldige Schüler ist nicht zufrieden mit dieser Antwort. Das muss doch schneller gehen, denkt er. Also betont er, er wolle es wirklich schneller schaffen und sei bereit, jeden Tag mindestens 15 Stunden hart daran zu arbeiten, ach was, Tag und Nacht, wenn’s sein muss, wirklich unbedingt wolle er das. Wie lange es denn in diesem Fall dauern würde?
„Zwanzig Jahre“, antwortet der Meister.
„Ich verstehe nicht, Meister“, sagt der enttäuschte Schüler, „warum es dann noch länger dauern soll?“
„Es ist Dein übermäßiges Wollen, das Dir Kraft entzieht. Wenn Du ein Auge auf dem Ziel hast, kannst Du nur noch mit einem Auge auf den Weg schauen.“
ZEN
Loslassen, was du zu wissen glaubst
Ein Professor besucht den Meister. Da spricht und spricht der Professor über alles, was er über Zen weiß, will diskutieren.
Der Meister steht auf und holt eine Kanne Tee. Er gießt Tee in die Tasse seines Besuchers, mehr und mehr, der Tee läuft links und rechts die Tasse herunter, füllt die Untertasse, überschwemmt auch diese.
Da kann der Professor nicht weiter an sich halten. „Was tust Du da, es ist längst mehr als voll, da passt doch nichts mehr rein!“
„Wie diese Tasse“, sagt der Meister, „bist Du überfüllt von Deinen Meinungen und Spekulationen. Wie soll ich Dir Zen zeigen, wenn Du nicht zuerst Deine Tasse leer machst?“
ZEN
Loslassen, womit du dich im Leid verstrickst
„Meine Frau hat mich verlassen“, klagt der Mann dem Meister. „Diese Schlampe, ich bin so wütend auf sie, jeden Tag schmiede ich Rachepläne, und es wird einfach nicht besser. Warum ist das Leben so schwer?“
Da antwortet der Meister: „Wenn wir verletzt werden, ist es, als würde uns ein Pfeil treffen. Das ist Schmerz. Es tut weh. Doch es gibt noch einen zweiten Pfeil, unsere Reaktion auf die Verletzung, unser Zorn, unsere Sehnsucht nach Rache. Unsere Bewertung der Situation. Dieser zweite Pfeil geht über den Schmerz hinaus. Das ist Leiden.“
ZEN
Fortsetzung folgt